Interview

Wie uns die feministische Perspektive auf Nachhaltigkeit zu neuen Lösungsansätzen verhilft

Zwei Expertinnen über den Einfluss von Geschlechtergerechtigkeit auf Nachhaltigkeit

Soziales Engagement 08.03.2023

„Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen“ lautet das fünfte der von der UN verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs), die auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung und lebenswerten Zukunft erreicht werden sollen. Trotzdem lassen sich mit Blick auf Phänomene wie die Differenz des durchschnittlichen Bruttoverdienstes der Frauen und Männer – Stichwort Gender Pay Gap – nur kleine Schritte in Richtung der Gleichbehandlung der Geschlechter feststellen. Warum ist das so? Und wie kann zu einer Gleichwertigkeit der Geschlechter beigetragen werden?

Im Interview sprechen Janine Steeger, Journalistin, Speakerin und Moderatorin, und Ines Imdahl, Diplom-Psychologin und Gründerin und Inhaberin der Forschungsagentur rheingold salon, über den Zusammenhang von Nachhaltigkeit und Feminismus und teilen Erkenntnisse aus ihrem 2022 veröffentlichten Buch „Warum Frauen die Welt retten werden und Männer dabei unerlässlich sind“. Anhand einer repräsentativen Studie, die sie für das Buch angelegt haben, zeigen die beiden Autorinnen auf, mit welchen Eigenschaften die großen Aufgaben unserer Zeit bewältigt werden können.

Janine, als „Green Janine“ widmest du dich nun seit einigen Jahren der Nachhaltigkeit. Außerdem hast du das Frauennetzwerk Futurewoman gegründet und möchtest Frauen, die im Bereich Nachhaltigkeit arbeiten, damit zu mehr Sichtbarkeit und Vernetzung verhelfen. Wie beeinflussen sich die Themen Nachhaltigkeit und Feminismus?

Janine: Unsere Gesellschaft zeichnet sich vor allem durch die Dominanz des männlichen Prinzips aus. Es zeigt sich aber, dass diese patriarchalen Strukturen zur Ausbeutung des Planeten geführt haben, weil es darum ging, immer mehr zu wachsen und mehr Geld zu verdienen – höher, schneller, weiter. Damit haben wir uns die Natur ein großes Stück untertan gemacht und sie ausgebeutet. Letztendlich ist ein Großteil der Klimakrise der Tatsache geschuldet, dass wir die patriarchalen Strukturen bislang für das Maß der Dinge hielten. Diese Strukturen müssen wir dringend überdenken.

Außerdem sind Frauen weltweit aus unterschiedlichen Gründen stärker von den Folgen der Klimakrise betroffen. In patriarchalen Systemen bekommen sie beispielsweise mit Blick auf Hungersnöte oft als letzte zu essen. Traditionell sind sie für die Wasserbeschaffung zuständig und müssen im Zusammenhang mit Dürreperioden immer längere Strecken zurücklegen, um Wasser zu holen. Hinzu kommt, dass der Klimawandel für Frauen auch mit einem höheren Gesundheitsrisiko einhergeht, da sie häufiger an Hitzesymptomen leiden als Männer. Hitzewellen führen zudem vermehrt zu Komplikationen während der Schwangerschaft. Außerdem ist Geschlechtergerechtigkeit als fünftes Ziel in der Nachhaltigkeitsagenda der UN verankert. Insofern gibt es viele Anknüpfungspunkte zwischen nachhaltiger Entwicklung und Feminismus.

Janine Steeger, Journalistin, Speakerin und Moderatorin

Ein Großteil der Klimakrise der Tatsache geschuldet, dass wir die patriarchalen Strukturen bislang für das Maß der Dinge hielten. Diese Strukturen müssen wir dringend überdenken.

In eurem Buch „Warum Frauen die Welt retten werden und Männer dabei unerlässlich sind” schreibt ihr vom weiblichen und vom männlichen Prinzip. Das weibliche Prinzip zeichnet sich dabei zum Beispiel durch Komplexität und Empfindsamkeit aus. Was meint ihr genau damit?

Janine: Mit den Bezeichnungen männlich und weiblich beziehen wir uns hier nicht direkt auf das biologische Geschlecht. Alle Fähigkeiten beziehungsweise Stärken, auf die wir in unserem Buch eingehen, können von Männern und von Frauen gleichermaßen angewandt werden.

Ines: Genau, schon auf der zweiten Seite des Buches schreiben wir, dass uns bewusst ist, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt und dass es natürlich so ist, dass Männer auch weibliche Anteile und Frauen auch männliche Anteile haben. Nichtsdestotrotz haben wir alle gewisse Vorstellungen im Kopf, wenn wir an Weibliches und Männliches denken. Es geht also um diejenigen Charakteristika, die in unserer Kultur häufig als weiblich oder als männlich wahrgenommen werden und häufig jeweils einem Geschlecht zugeordnet werden.

Ines, als Gründerin und Inhaberin der Forschungsagentur rheingold salon hast du eine Studie für euer Buch konzipiert. Wie ist sie aufgebaut und zu welchem Ergebnis seid ihr gekommen?

Ines: Unsere Studie basiert auf tiefenpsychologischen Interviews sowie auf einer repräsentativen Befragung, an der 230 Führungskräfte in Deutschland teilgenommen haben. Dafür haben wir vermeintliche Schwächen von Frauen in Stärken verwandelt. Dazu dienten uns typische Klischees über das Weibliche, die wir mit den Führungskräften diskutiert haben: „Weibliches hängt immer mit Komplexität zusammen und ist so viel anstrengender“ wurde beispielsweise zu „weibliches Denken erfolgt in komplexen Zusammenhängen und mit besonders viel Weitsicht“. Viele Führungskräfte hatten zahlreiche Beispiele parat, in denen die vermeintliche Schwäche als Stärke gedeutet wurde. Das Ergebnis unserer repräsentativen Studie ist, dass 89 Prozent der deutschen Führungskräfte der Auffassung sind, dass weibliche Stärken die Probleme unserer Zeit lösen werden. Differenzieren wir nach Geschlecht, sehen das 95 Prozent der Frauen und 84 Prozent der Männer so.

Ines Imdahl, Diplom-Psychologin und Gründerin und Inhaberin der Forschungsagentur rheingold salon

Das Ergebnis unserer repräsentativen Studie ist, dass 89 Prozent der deutschen Führungskräfte der Auffassung sind, dass weibliche Stärken die Probleme unserer Zeit lösen werden.

Welches Beispiel zeigt eine vermeintliche Schwäche von Frauen, die eigentlich eine Stärke ist?

Janine: Ein gutes Beispiel sind Dr. Ulrike Pfreundt, Marie Griesmar und Hanna Kuhfuß, die das Start-up rrreefs gegründet haben und Korallenriffe mithilfe von 3-D-Druck nach- und wieder aufbauen. Das Thema haben wir bereits in Henkel-Podcast Fritz for Future besprochen. Es zeigt, dass Komplexität eine Stärke ist. Bevor sie das Projekt nämlich gestartet haben, haben sie erst mal alle wichtigen Fragen gestellt. Diese waren naturwissenschaftlicher, technischer, aber auch künstlerischer Natur – der Sachverhalt wurde also genau aus jeder Perspektive beleuchtet. Erst nachdem sie eine ganzheitliche Strategie erarbeitet hatten, die sämtliche Aspekte aufgriff, legten sie los. Heute zeigt sich an ihrem besonders erfolgreichen Pilotprojekt in Kolumbien, dass der komplexere – dem weiblichen zugeordnete – Weg der richtige war.

Welche Vorteile erwachsen aus der gesellschaftlichen Anerkennung des weiblichen Prinzips und einer Gleichwertigkeit der Geschlechter?

Janine: Durch die Gleichwertigkeit würden alle Vorteile erfahren – auch Männer, indem sie sich ein Stück weit mehr entspannen könnten. Dann wäre es vielleicht auch so, dass sich weniger Männer durch den linearen Weg des „höher, schneller, weiter” unter Druck gesetzt fühlten, sondern auch mal laut sagen könnten: „Da sehe ich mich nicht“.

Ines: Richtig, indem man sich an einem neuen zyklischen Leistungsmodell, das sich in der Natur wiederfindet, orientieren würde, sänke der Performancedruck. Solche zyklischen Modelle sehen wir zum Beispiel bei Sportler:innen. Sie haben extreme Trainingsphasen und auch Phasen der Entspannung. Und so ist es bei uns allen doch auch. Wir haben Tage, an denen wir voller Power sind und Tage, an denen wir weniger Energie haben. Wenn Männer dazu auch öfter öffentlich stehen könnten, wäre das sicher entlastend. Außerdem können weibliche Stärken zur Risikominimierung beitragen, indem sich auch um unangenehme Themen gekümmert und ihnen mit Weitsicht begegnet wird. Der dritte Punkt zielt auf das Wohlbefinden ab. Weibliches zeichnet sich durch Kümmerndes aus. Es achtet darauf, dass man sich stärkt. Das ist ein großer Mehrwert – vor allem mit Blick auf die mentale Gesundheit.

In Deutschland sprechen wir schon seit Jahrzehnten über das Thema Gleichberechtigung – ist das mit Blick auf andere Länder überhaupt legitim?

Ines: Ich finde das sehr wichtig. Es ist auch kein Jammern auf hohem Niveau. Laut Demokratie-Index leben insgesamt nur 22 Länder der Welt eine vollständige Demokratie und damit 6,4 Prozent der Weltbevölkerung. Und das hat sich in den letzten Jahren einfach auch noch mal verschlechtert. Das führt uns vor Augen, dass wir hier in Deutschland für die Länder, die nicht demokratisch leben, die Stimme erheben sollten. Nur die Menschen, die frei ihre Meinung äußern können, können auch in der restlichen Welt etwas bewegen. Deshalb ist es wichtig, dass wir weiterhin sagen: „Wir brauchen die Gleichwertigkeit, wir brauchen sie hier und wir brauchen sie weltweit.“

Janine Steeger, Journalistin, Speakerin und Moderatorin

Die Ungleichwertigkeit der Geschlechter bedeutet, dass wir nur 50 Prozent unserer Power nutzen. Dadurch verlieren wir im Kampf gegen den Klimawandel an Geschwindigkeit.

Was bedeutet die aktuelle Ungleichwertigkeit der Geschlechter für den Kampf gegen den Klimawandel?

Janine: Für mich bedeutet es, dass wir 50 Prozent unserer Power nicht nutzen. Indem wir bislang nur die männlichen Stärken in den Vordergrund stellen, anstatt diese um die weiblichen zu ergänzen, verlieren wir im Kampf gegen den Klimawandel an Geschwindigkeit. Deshalb ist es an der Zeit, all die Fähigkeiten, die uns zur Verfügung stehen, zu nutzen und dazu beizutragen, dass wir Gleichberechtigung leben und damit vielleicht als Vorbild für andere fungieren.

Der unbereinigte Gender Pay Gap lag im Jahr 2022 bei 18 Prozent. Somit verdienten Frauen im vergangenen Jahr einen durchschnittlichen Bruttostundenverdienst, der 4,31 Euro geringerer war als der von Männern.

Der bereinigte Gender Pay Gap berücksichtigt – im Gegensatz zum unbereinigten Pay Gap – strukturelle Faktoren. Bei vergleichbarer Tätigkeit, Qualifikation und Erwerbsbiografie verdienten Frauen 2022 durchschnittlich 7 Prozent weniger pro Stunde als Männer.

In Deutschland wenden Frauen durchschnittlich täglich 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Care-Arbeit (Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit, Ehrenamt) auf als Männer.

Im Jahr 2022 lag der Frauenanteil in Vorständen der DAX-Unternehmen in Deutschland bei 22,7 Prozent.

Der Gleichstellungsindex misst die Umsetzung einer geschlechtergerechten Gesellschaft der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Dabei stellen 100 Punkte die Idealsituation der Geschlechtergerechtigkeit dar. 2022 betrug der Gender Equality Index in Deutschland 68,7.

Bis 2025 strebt Henkel ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis an. Ziel ist es, den Frauenanteil über alle Management-Ebenen hinweg signifikant zu erhöhen, um Vielfalt und Chancengerechtigkeit zu fördern.

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